Und nun haben wir den Salat. Frauke Brosius-Gersdorf zieht sich von ihrer Kandidatur als Richterin am Verfassungsgericht zurück, was erwartungsgemäß eine sehr breite und teilweise emotionale Debatte ausgelöst hat. Was ich aber erstaunlich und sehr beunruhigend finde ist, wie schnell sich Stimmen finden, die diesen Schritt nicht nur akzeptieren, sondern sogar als „sinnvoll“ oder „folgerichtig“ einordnen: Wer nicht mehrheitsfähig sei, solle eben Konsequenzen ziehen, zum Schutz derer, die es sind.
Über Aussagen wie diese sollte sich jede und jeder von uns eine Weile Gedanken machen und sich fragen: Wollen wir wirklich den Maßstab setzen, dass Druck und Kampagnen dieser Art definieren, wer „mehrheitsfähig“ ist und damit faktisch bestimmen, wer überhaupt noch antreten darf?
Klingt alles erst einmal sehr pragmatisch, ist aber aus meiner Sicht eine klare Bankrotterklärung an den demokratischen Diskurs. Mehrheitsfähigkeit ist kein Naturgesetz, das sich zwangsläufig aus aktuellen Wahlergebnissen ergibt, sondern das Ergebnis aktiver politischer Auseinandersetzung und offener Diskussion. Wer diesen Maßstab absolut setzt, legitimiert die Verdrängung unliebsamer Stimmen und normalisiert, zumindest in diesem Fall, den Erfolg gezielter Kampagnen.
Dazu ein paar Stimmen aus Presse, Politik und von Frau Brosius-Gersdorf.
Frauke Brosius-Gersdorf erklärte, dass Teile der CDU/CSU-Fraktion ihre Wahl kategorisch ablehnten. Sie wolle „Schaden von Gericht und Demokratie abwenden“ und das Gesamtpaket der Richterwahl nicht gefährden. Auch den Koalitionsstreit wolle sie nicht weiter befeuern (1, 2, 3, 4, 5).
NDR: Spricht von einer „beispiellosen Kampagne“ gegen Frauen in Spitzenpositionen. Die SPD Schleswig-Holstein nennt es ein „bitteres Signal“ für Demokratie und Frauen. Auch das antifeministische Klima wird hervorgehoben (1).
Süddeutsche Zeitung: Sieht den Umgang mit Brosius-Gersdorf als Auslöser einer massiven Koalitionskrise; nach ihrer schriftlichen Erklärung gebe es ohne reelle Wahlchance keinen Sinn, die Kandidatur aufrechtzuerhalten (6).
Spiegel: Respektiert ihre Entscheidung, ordnet sie politisch ein und beschreibt zugleich, dass eine gezielte Kampagne von rechts außen offenkundig Wirkung zeigte (4, 7).
ZDF/Heute: „Stiller Ausweg“ für die Koalition. Die SPD steht weiterhin hinter ihr, die Grünen machen Unionsfraktionschef Spahn hauptverantwortlich, die Linke spricht von einem „fatalen“ Signal für die Demokratie (3).
FAZ/Welt: Konzentrieren sich auf die offizielle Begründung und Reaktionen aus Union und SPD. Die Union bestreitet eine Hetzkampagne, bedauert aber die Situation (8, 9).
LTO: Dokumentiert die Rückzugserklärung im Wortlaut und liefert Presseschauen zur Entwicklung der Debatte, einschließlich der Kritik aus der Unionsfraktion an inhaltlichen Positionen (10, 11).
SPD: Spricht von organisiertem Druck und einer diffamierenden Kampagne, nicht nur von rechts außen, sondern mit Rückendeckung aus Teilen des Parlaments (1, 12, 3).
Union: Zollt Respekt für den Schritt, räumt ein, inhaltliche Bedenken zu spät adressiert zu haben. Spahn lobt die fachliche Qualifikation, sieht aber keinen eigenen Fehler (3, 4).
Grüne/Linke: Kritisieren die Union scharf; die Grünen sprechen von einem ungeheuerlichen Vorgang, die Linke von einem fatalen Signal. Teils wird auch mangelnde Standfestigkeit bei der SPD kritisiert, weil das Nein der Union hingenommen wurde (3, 13).
taz: Nennt den Rückzug einen „Sieg der rechten Hetzer“, ermöglicht von CDU/CSU. Kritisiert ein antifeministisches Klima und mangelnde Solidarität in Politik und akademischer Öffentlichkeit (13).
Mehrere Leitmedien sehen darin ein Symptom eines zunehmend aggressiven und polarisierten politischen Diskurses, in dem persönliche Unterstellungen, Kampagnen und gezielte Initiativen gegen bestimmte Kandidierende verfangen (1, 3, 13).
Plagiatsvorwürfe spielten aus Sicht vieler Beobachter keine entscheidende Rolle für die Entscheidung, sondern wurden eher als Teil der Kampagnenkulisse eingeordnet (2, 14). Ergänzend dokumentieren weitere Beiträge und O-Töne die Zuspitzung der Auseinandersetzung bis hin zu Live-Sendungen und Pressestatements, ohne die Kernbegründung des Rückzugs zu verändern (15, 16, 17, 18).
Meine Meinung: Wer Rückzüge wie diesen als „sinnvoll“ feiert, weil eine Kandidatin angeblich „nicht mehrheitsfähig“ ist, liefert sich aus. Demokratie lebt nicht vom freiwilligen Rückzug, sobald Gegenwind aufkommt. Mehrheitsfähigkeit darf nicht durch Kampagnen erzwungen werden. Alles andere ist das Gegenteil von politischer Kultur.
Und ja, das nächste Narrativ wird nun lauten: „Naja, es ist jetzt halt so, wie es ist.“ Ganz ehrlich: Das ist die bequeme Entlastungsformel nach einem politisch herbeigeführten Ergebnis. Sie verschleiert Verantwortung, normalisiert die Mechanismen und macht aus einem Ausnahmefall eine vermeintliche Regel.
Und warum wird diese Erzählung bei uns so überzeugt vorgetragen? Erstens, parteitaktische Loyalität. Wer auf Linie bleiben will, rechtfertigt das Ergebnis, nicht den Prozess. Zweitens, Konfliktvermeidung. Es ist einfacher „Mehrheitsfähigkeit“ zu beschwören, als sich inhaltlich zu streiten und Mehrheiten zu erarbeiten. Drittens, Karriere- und Lagerlogik. Wer als verlässlich gilt, sammelt Punkte im eigenen Lager, leider auf Kosten einer politischen Kultur, die Widerspruch aushält, statt ihn auszusortieren.
(2) https://taz.de/Wahl-zum-Bundesverfassungsgericht/!6105695/
(3) https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/brosius-gersdorf-rueckzug-richterwahl-100.html
(6) https://www.sueddeutsche.de/politik/brosius-gersdorf-rueckzug-gruende-reaktionen-spd-cdu-li.3295376
(8) https://www.faz.net/brosius-gersdorf-verzichtet-auf-kandidatur-110626505.html
(10) https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lto-dokumentiert-erklaerung-im-wortlaut
(12) https://www.spdfraktion.de/presse/statements/kandidatur-verzicht-prof-brosius-gersdorf
(13) https://taz.de/Rueckzug-von-Brosius-Gersdorf/!6102139/
(14) https://plagiatsgutachten.com/blog/dissertation-frauke-brosius-gersdorf/
(16) https://www.landtag.ltsh.de/presseticker/2025-08-07-18-38-45-1863/?tVon=&tBis=¶mSeite=50
(17) https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/brosius-gersdorf-rueckzug-102.html
