Wie viel muss Demokratie ertragen?
In vielen Beiträgen und Kommentaren – unabhängig von Facebook, SPIEGEL oder anderen Medien – wird in der Diskussion über das aktuelle politische Spektrum immer wieder das Wort Demokratie verwendet. Sehr gerne auch direkt oder indirekt verpackt in Aussagen wie „Das Volk hat gewählt“, „Eine Demokratie muss auch andere Positionen akzeptieren“ oder „Meinungsfreiheit muss das aushalten“. Ich sehe das anders, denn wer sich hinter diesen Floskeln versteckt, übersieht die eigentliche Herausforderung: Demokratie ist weit mehr als ein Mehrheitsprinzip, das stumpf auf Zahlen und Wahlergebnisse reduziert wird. Sie ist ein Ideal, ein anspruchsvolles Ziel, das tägliches Engagement und die ständige Auseinandersetzung mit ihren Grundwerten erfordert.
Demokratie lebt von der aktiven Teilhabe aller an den Entscheidungsprozessen. Demokratie heißt Diskurs. Aber was passiert, wenn demokratiezersetzende Kräfte an Einfluss gewinnen? Dürfen wir zulassen, dass diese Freiheiten genutzt werden, um die Grundfesten unserer Demokratie selbst zu zerstören? Das Prinzip der Volkssouveränität verlangt uns mehr ab als nur freie und faire Wahlen. Es erfordert die Achtung der Grundrechte: Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und eine unabhängige Justiz. Dieses Prinzip gerät in Gefahr, wenn wir uns auf einem bloßen „demokratischen Willen“ ausruhen, oder uns gar hinter ihm verstecken, ohne die tatsächliche Verantwortung, die damit einhergeht, zu erkennen. Demokratie ist keine starre Größe; sie lebt von der ständigen Aushandlung zwischen den unterschiedlichen Interessen und Ansichten innerhalb einer Gesellschaft. Sie lebt von der Bereitschaft, zuzuhören, zu verhandeln und Kompromisse zu finden.
Wir stehen hier vor einem Dilemma: Wie viel Demokratie kann eine Gesellschaft ertragen, wenn es um Parteien geht, die diese Grundprinzipien in Frage stellen? Schon in den 20er Jahren warnte Carl Schmitt, dass die Demokratie sich wehren müsse, wenn sie von innen heraus bedroht wird. Dieser Gedanke ist aktueller denn je. Wir können unsere Demokratie nicht durch bloße Toleranz schützen. Ehrlich jetzt, wer glaubt, dass man den Feinden der Demokratie tatenlos zuschauen kann, während sie die Grundrechte aushöhlen, der hat nicht verstanden, wie fragil das Fundament ist, auf dem unsere Gesellschaft ruht. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat es auf den Punkt gebracht: „Eine Demokratie darf nicht so tolerant sein, dass sie ihre Feinde nicht bekämpft. Andernfalls riskiert sie, sich selbst abzuschaffen.“ Hier zeigt sich ihre Stärke: Sie muss nicht nur tolerant, sondern auch wehrhaft sein. Das bedeutet, die Feinde der Demokratie zu benennen und ihnen den Boden zu entziehen, auf dem sie wachsen. Eine Demokratie, die sich nur auf Mehrheitsentscheidungen stützt, ohne ihre Grundwerte zu reflektieren, ist bereits im Begriff, ihre Substanz zu verlieren.
Diese Gedanken führen unweigerlich zur entscheidenden Frage: Wo endet die Toleranz? Parteien, die die Spielregeln der Demokratie aktiv bekämpfen, stellen eine Bedrohung dar, der wir uns entschlossen entgegenstellen müssen. Das Konzept der „streitbaren Demokratie“, das im Grundgesetz verankert ist, sieht vor, dass Parteien, die darauf abzielen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen, verboten werden können. Doch dieses Mittel muss mit äußerster Sorgfalt angewendet werden, ein Einsatz kann selbst als antidemokratisch wahrgenommen werden. Die wahre Stärke der Demokratie liegt nicht in der Repression, sondern in der Fähigkeit, den Diskurs aufrechtzuerhalten, ohne ihre Grundwerte zu verraten.
Und damit möchte ich zum vielzitierten Begriff des „Wählerwillens“ kommen, der m.E. immer wieder als Argument missbraucht wird. Wenn eine Partei 30% der Stimmen erhält und eine andere 32%, dann wird oft behauptet, der „Wählerwille“ liege klar bei letzterer. Doch das ist eine grobe Vereinfachung, die die Komplexität des demokratischen Prozesses völlig verkennt. Demokratie ist kein Wettkampf, bei dem der Gewinner alles bekommt. Sie ist ein ständiger Prozess, bei dem Verhandlung und Kompromisse im Zentrum stehen. Der „Wählerwille“ zeigt sich nicht im Moment des Wahlsiegs, sondern erst am Ende dieses politischen Prozesses, wenn Koalitionen gebildet und Entscheidungen getroffen werden. Denn das eigentliche Ziel der Demokratie ist es, Lösungen zu finden, die die Vielfalt der Stimmen und Meinungen in einer Gesellschaft berücksichtigen – nicht, einer Seite die absolute Macht zu geben.
Demokratie ist nicht leicht. Sie verlangt von uns, dass wir uns ständig hinterfragen und dass wir uns auch mit jenen auseinandersetzen, deren Meinungen uns nicht passen. Aber sie gibt uns die Freiheit, unsere Gesellschaft gemeinsam zu gestalten. Nur wenn wir diese Freiheit nutzen, um in den Dialog zu treten und Kompromisse zu finden, kann der wahre „Wählerwille“ zum Ausdruck kommen.
Wie viel muss eine Demokratie ertragen? Viel – aber nicht alles.