Ich habe diese Bundesdelegiertenkonferenz am vergangenen Wochenende über drei Tage mit einem Gemisch aus Hoffnung, Sorge und einer ganz nüchternen Frage im Hinterkopf aufmerksam verfolgt: Was heißt das alles für uns hier vor Ort, für unsere Arbeit in Erftstadt und die noch ganz frische Ratsperiode. Ein paar meiner Eindrücke möchte ich mit euch aus meiner Perspektive teilen. Vorweg: Es folgt kein Jubelgeschrei und keine Fangesänge, aber ich bin fest davon überzeugt, dass diese Partei, mit all ihren Widersprüchen, dringend gebraucht wird. Gerade jetzt.
Die Ausgangslage ist recht einfach: Es ist aktuell nicht leicht, sich als Grüner zu erkennen zu geben. Wer heute sagt „Ich bin bei den Grünen“, erntet nicht mehr automatisch Zustimmung oder freundliches Nicken, sondern oft Skepsis, manchmal offene Ablehnung, selten blanken Hass. Das Heizungsgesetz hat unseren Ruf massiv beschädigt, weil viele Menschen das Gefühl hatten, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird und dass ausgerechnet diejenigen, die ohnehin wenig haben, zu viel Last tragen sollen. Wir gelten manchen als Besserwisserpartei, als akademische Welterklärer, die aus einer komfortablen Lebenslage heraus anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben. In Umfragen hängen wir deutlich unter unseren eigenen Ansprüchen, in Ostdeutschland droht uns 2026 teilweise sogar der Rauswurf aus den Landtagen.
All das war in Hannover spürbar. Die euphorische Stimmung früherer Jahre – Baerbock, Habeck, Aufbruch – ist vorbei. Wir wirken erwachsener, nüchterner, manchmal auch ein wenig müde. Aber wir wirken eben auch ehrlicher. Niemand kann sich mehr einreden, dass es irgendwie schon laufen wird. Der Parteitag war geprägt von Identitätssuche, Selbstkritik und Neuaufstellung. Ein Leitmotiv war der Wechsel von der Ampel in die Opposition. Viele Delegierte haben offen gesagt, dass es eine Erleichterung ist, nicht mehr jeden Tag im Koalitionskorsett zu stecken, Kompromisse vertreten zu müssen, hinter denen viele innerlich nicht stehen konnten. Gerade die Grüne Jugend hat daraus einen Slogan gemacht: „Endlich weg von Kompromissen, hin zu Visionen.“ Menschlich verstehe ich das sehr gut, aber Opposition ist kein Wellnessprogramm. Es heißt eben nicht, sich eine Wunschliste aufzuschreiben, bei der die Wirklichkeit keine Rolle spielt. Genau an dieser Spannung hat sich die BDK in Hannover abgearbeitet: Wie viel Zumutung darf Politik sein, wie viel Wunschkonzert kann sie sich leisten, wenn sie irgendwann wieder regieren will.
Sehr sichtbar war das beim Thema Mobilität und Klimapolitik. Die Forderung nach einem neuen 9-Euro-Ticket wurde gegen den Willen des Bundesvorstandes beschlossen, durchgesetzt vor allem von der Grünen Jugend und der Parteilinken. Die Idee dahinter ist richtig: Mobilität soll bezahlbar sein, Klimapolitik darf nicht zur Klassenfrage werden, bei der diejenigen auf der Strecke bleiben, die sich teure Tickets nicht leisten können und trotzdem zur Arbeit müssen. Das 9-Euro-Ticket war ein starkes Symbol dafür, was sozial gerechte Klimapolitik sein kann. Aber, ganz ehrlich: Die Finanzierungsfrage wurde in Hannover nicht überzeugend beantwortet. Und genau das wird uns im Wahlkampf auf die Füße fallen, wenn wir diese Forderung einfach wiederholen, ohne sauber zu erklären, wie sie hinterlegt ist. Ich verstehe den Impuls der Jugend, ich teile das Bedürfnis nach klaren, eingängigen Bildern. Trotzdem bleibt der Punkt: Am Ende wird Politik an Zahlen gemessen. Für uns im Rhein-Erft-Kreis heißt das: Wenn wir hier vor Ort über ÖPNV-Ausbau, bessere Taktung und Ticketmodelle sprechen, müssen wir gleichzeitig sagen, wie das bezahlt werden soll und welche Prioritäten wir im Haushalt setzen. Wer die Haushaltslage in Erftstadt kennt, weiß, wie eng die Luft ist. Vor diesem Hintergrund wirken Maximalforderungen schnell hohl, wenn kein realer Pfad dorthin aufgezeigt wird.
Wesentlich stimmiger finde ich deshalb den Beschluss zu Luxusflügen. Deutlich höhere Abgaben auf Privatjets und die deutliche Mehrbelastung von First- und Business-Class-Flügen sind ein klares klimapolitisches und sozialpolitisches Signal: Wer in kurzer Zeit ein Vielfaches der Emissionen eines durchschnittlichen Menschen verursacht, soll dafür auch stärker zur Kasse gebeten werden. Es geht eben nicht darum, den jährlich Familienurlaub moralisch zu ächten. Es geht darum, diejenigen stärker in die Verantwortung zu nehmen, die wirklich im ober(st)en Segment der Wohlstandsskala unterwegs sind. Für die kommunale Ebene ist das eine wichtige Leitlinie. Wenn wir über teurere Parkgebühren, neue Mobilitätskonzepte, Tempolimits oder den Umbau von Straßen sprechen, dann müssen wir immer mitdenken, wie die Lasten verteilt sind. Politik, die am Ende bei denen landet, die ohnehin jeden Euro dreimal umdrehen müssen, wird zu Recht abgelehnt. Politik, die klar macht, dass sie zuerst an den Stellen dreht, an denen wirklich finanzielle Spielräume vorhanden sind, hat eine Chance, als fair wahrgenommen zu werden.
Fast schon historisch war ein Beschluss, dessen Diskussion in der Partei und auf der BDK schon einen traditionellen Charakter hat: Wir haben uns gegen die Erstattung homöopathischer Leistungen durch gesetzliche Krankenkassen ausgesprochen. Öffentliche Gelder sollen dort eingesetzt werden, wo wissenschaftliche Evidenz nachweislich vorhanden ist. Homöopathie bleibt eine individuelle Entscheidung, aber eben ohne GKV-Quersubventionierung. Für eine Partei, die in ihren Anfangsjahren stark aus einem Milieu stammt, das „sanfte Medizin“, Globuli und Naturheilpraktik hochgehalten hat, ist das ein bemerkenswerter Schritt. Ganz ehrlich, wer will, dass Klimamodelle, Virologen und wissenschaftliche Analysen ernst genommen werden, der kann nicht gleichzeitig Pseudomedizin privilegieren. Gerade in Zeiten, in denen Verschwörungserzählungen und Wissenschaftsskepsis zunehmen, ist das ein notwendiger Bruch mit liebgewonnenen Mythen. Auch hier zeigt sich etwas, das ich mir insgesamt stärker wünsche: die Bereitschaft, eigene Traditionen kritisch zu hinterfragen, wenn sie nicht mehr zur Realität und zum eigenen Anspruch passen.
In der Außen- und Sicherheitspolitik bleibt die Partei bei einer bemerkenswert klaren Linie. Die Unterstützung der Ukraine, auch mit weitreichenden Waffensystemen, die scharfe Kritik an Versuchen, das Land in einen faulen Frieden zu drängen, der am Ende nur Russland nützt, all das wurde bestätigt und teilweise noch einmal verschärft. Die Grünen sind in der Außenpolitik inzwischen eine der klarsten Stimmen für eine wehrhafte Demokratie. Das ist für eine Partei mit pazifistischen Wurzeln weder bequem noch konfliktfrei, aber angesichts der Lage in Europa aus meiner Sicht nur konsequent.
Beim Thema Wehrdienst und verpflichtende Dienste hingegen wurde die innere Zerrissenheit sehr deutlich. Auf der einen Seite die Geschichte der Friedensbewegung, alte Slogans gegen Militarismus. Auf der anderen Seite ein nüchterner Blick auf die Sicherheitslage und auf die Realität einer unterbesetzten Bundeswehr, eines strapazierten Katastrophenschutzes. Herausgekommen ist ein Kompromiss: verpflichtende Musterung für junge Männer, aber keine Wiedereinführung der Wehrpflicht, kein Zwangsdienst. Es sollen Anreize geschaffen werden, damit mehr Menschen sich freiwillig für Bundeswehr, Zivil- und Katastrophenschutz entscheiden. Die Grüne Jugend wollte hier jede Form von Pflicht vermeiden und hat diese Debatte klar verloren. Für uns vor Ort bedeutet das: Wir werden mehr Gespräche mit jungen Menschen über diese Themen führen müssen. Über freiwilliges Engagement, über die Frage, wie viel Staat in Sicherheit investiert, aber auch darüber, wie sich eine Gesellschaft organisiert, die in Krisen nicht handlungsunfähig sein will. Ich halte es für wichtig, diese Gespräche nicht mit erhobenem Zeigefinger zu führen, sondern auf Augenhöhe.
Der schwierigste Teil des Parteitags war der Nahost-Konflikt. Selten war so spürbar, wie unterschiedlich Erfahrungen, Emotionen und Perspektiven in einer Partei sein können. Menschen, für die Solidarität mit Israel nach dem 7. Oktober existenziell ist. Menschen, deren Blick vor allem auf dem Leid der Zivilbevölkerung in Gaza liegt. Menschen, die Angst haben, dass jede Kritik an der israelischen Regierung sofort als Antisemitismus diffamiert wird. Und andere, die befürchten, dass die Perspektive der in Israel lebenden Menschen in Teilen der Linken schlicht ausgeblendet wird. Nach langen, wirklich zermürbenden Verhandlungen ist ein Kompromiss zustande gekommen, der beiden Seiten etwas abverlangt. Das Existenzrecht Israels wird klar bekräftigt, ebenso das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenserinnen und Palästinenser. Die israelische Kriegsführung wird als völkerrechtswidrig kritisiert, ohne in Begriffe wie „Genozid“ zu gehen. Eine sofortige Anerkennung eines palästinensischen Staates lehnt der Parteitag ab, die Anerkennung soll Teil eines Friedensprozesses sein, nicht Reaktion auf einen Terrorangriff. UNRWA wird trotz aller Kritik unterstützt. Menschenrechtsverletzungen werden explizit auf beiden Seiten benannt. Perfekt ist dieser Kompromiss nicht. Perfekt kann er in dieser Lage auch nicht sein. Aber er zeigt: Die Partei drückt sich nicht vor den kompliziertesten moralischen und politischen Fragen. Sie versucht, eine Haltung einzunehmen, die weder antisemitische Codes bedient noch das Leid der Palästinenser relativiert. Auf kommunaler Ebene merken wir, wie schnell in diesen Fragen Gesprächsfäden reißen. Wer mitbekommt, wie verhärtet die Fronten teilweise sind, weiß, was ich meine. Umso wichtiger ist es, dass wir eine Position haben, die die Würde aller Menschen im Blick behält und klare Kante gegen jede Form von Hass zeigt.
Sehr deutlich sichtbar wurden in Hannover auch die inneren Spannungen der Partei. Die Grüne Jugend und Teile der Parteilinken drängen auf einen härteren linken Kurs, insbesondere in Sozial- und Klimafragen. Die neue Parteispitze Brantner/Banaszak versucht, diesen Impuls aufzugreifen, ohne die Partei in eine politische Beliebigkeit rutschen zu lassen. Und dann ist da Cem Özdemir, der sich fast als innere Opposition inszeniert, dabei aber eine wichtige Lücke adressiert: Er spricht die bürgerliche Mitte und Arbeiterinnen und Arbeiter an, bringt Themen wie innere Sicherheit, Integration und Migration offensiv auf die Bühne und warnt vor linken Wolkenkuckucksheimen und reiner Symbolpolitik.
Ganz ehrlich: In dieser Partei stecken mindestens zwei Parteien. Die urbane linke und die realpolitische Mitte. Die BDK hat das nicht versteckt, sondern offen gezeigt. Das ist unbequem, aber notwendig. Eine Partei ohne sichtbare Konflikte ist entweder irrelevant oder unehrlich. Die Frage ist nicht, ob wir Spannungen haben. Die Frage ist, ob wir sie produktiv machen. Für eine Politik, die nicht nur im eigenen moralischen Anspruch „richtig“, sondern auch mehrheitsfähig werden kann, ohne dass wir am Ende für Applaus in den eigenen Blasen unsere Glaubwürdigkeit in der Realität verspielen. Die strategischen Risiken liegen auf der Hand. Wenn wir uns in der Opposition nur noch mit uns selbst beschäftigen, droht uns das Schicksal der SPD: ordentlich, bemüht, fleißig, aber politisch ohne Kraft. Ostdeutschland ist unsere Achillesferse. 2026 können wir dort sehr hart landen.
Was heißt das nun für uns in Erftstadt, konkret, jenseits der großen Bühne in Hannover. Erftstadt hat mit Hochwasserschutz, maroder Infrastruktur, digitaler Rückständigkeit, personell überlasteter Verwaltung und einer massiv angespannten Haushaltslage genug eigene Probleme, die erst einmal wenig glamourös sind. Und doch hängt alles zusammen. Wenn wir hier über Verkehr, Stadtentwicklung und Energiewende sprechen, müssen wir Klimapolitik und soziale Gerechtigkeit gemeinsam denken. Es reicht nicht, Fahrradwege zu planen und Ladesäulen zu fordern, ohne zu erklären, wie Menschen mit kleinem Einkommen in dieser Transformation mitgenommen werden. Es reicht nicht, großes Digitalisierungsvokabular zu benutzen, ohne dafür zu sorgen, dass unsere Verwaltung überhaupt personell und organisatorisch in der Lage ist, digitale Prozesse sauber umzusetzen. Wir haben als Grüne in Erftstadt die Aufgabe, ein Gegenbild zum Klischee der akademischen Besserwisser zu zeigen. Das fängt damit an, dass wir zuhören, bevor wir reden. Dass wir nicht mit fertigen Moralurteilen auftreten, sondern mit ehrlichem Interesse. Dass wir die Konflikte nicht meiden, sondern dahin gehen, wo es unbequem ist.
Mein persönliches Fazit aus Hannover fällt deshalb so aus: Die 51. BDK war kein Parteitag der großen Erzählung vom neuen Aufbruch. Sie war ein Parteitag der ehrlichen Zumutungen. Wir haben ein massives Imageproblem. Wir haben echte Spannungen zwischen linkem Anspruch und praktischer Umsetzbarkeit. Wir stehen vor einer Welt, die rauer, unsicherer und komplexer geworden ist, und wir haben noch nicht auf alles eine Antwort. Aber diese Partei lebt. Sie streitet, sie ringt, sie arbeitet an sich. Sie verabschiedet sich nicht in die Komfortzone, sondern versucht, ihre Grundwerte mit einer komplizierten Gegenwart zu versöhnen.
